Patent Trousers (dt)
Alexandra Hopf
Patenthose (Spotting Raoul), 2020/21
Eine Fotografie von August Sander aus dem Jahre 1929 zeigt den Dadaisten Raoul Hausmann, wie er in einer weißen Oxfordhose für die Kamera posiert. Die Hose aus Baumwollköper fällt mit sehr weitem Schlag. Es handelt sich dabei um ein Modell, welches damals unter den Studenten der Universität Oxford als subversiv und daher hochmodisch galt. Es gibt unterschiedliche Versionen über den Ursprung der Hose.
Am wahrscheinlichsten ist, dass sie damals von den Studenten zwischen den Ruderregatten als wärmende Überziehhose getragen wurde, deren zur Schau gestellte Lässigkeit die etablierte Kleiderordnung der Universität provozieren sollte.
Auch in den folgenden Jahrzehnten verschafften die Oxford bags mit ihrem weiten Schlag Befreiung. Als Hosen des sogenannten zoot suit wurden sie von Afroamerikanern und Latinos im Amerika der 1930er- und 1940er-Jahre als Zeichen der Selbstbestimmung getragen. Im Northern Soul, einer Klub- und Musikbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre aus dem Norden Englands, die sich auf Schwarze Soulmusik bezog und mit dem Black Power Movement solidarisierte, wurde die weite Hose, in der sich die Träger während der oft tagelang andauernden Tanzmarathons akrobatisch bewegten, erneut zum Kult.
Der modeversierte Hausmann trug die Oxfordhose vor allem, wenn er performte. Für ihn war Mode eine künstlerische Ausdrucksform.
Doch August Sanders Porträt Ohne Titel (Raoul Hausmann als Tänzer) zeigt noch einen anderen Hausmann: Barfuß, mit nacktem Oberkörper und ironisch expressiver Pose persifliert er das maskuline Rollenverständnis, mit dem er sich sonst in selbst entworfener innovativer Kleidung in diversen Modemagazinen oder auf privaten Fotografien zeigt.
Hausmann blieb auch in seinen Medien fluide. Als einer der experimentellsten unter den Dadaisten setzte er all seine Energie daran, einen Mittler zwischen Optik und Akustik, ein sogenanntes „Optophon“ (1), zu erfinden, das mithilfe von Fotosensoren Licht in Klang und Klang in Licht umwandeln sollte. Auch erweiterte er den Begriff der Collage transmedial, indem er Ton, Licht und Bewegung zu vereinen suchte.
Aus seinen synästhetischen Ansätzen entwickelte Hausmann sogar einige Patente. Die Patenthose (Spotting Raoul) greift das Synästhetische von Hausmanns Schaffen auf und übersetzt mit analogen und digitalen Mitteln dessen fotografisches Porträt ins Dreidimensionale. In einem abgedunkelten Raum lösen Sensoren bei Annäherung eine Sequenz aus Bewegung (Rotation), Klang und moduliertem UV-Licht aus. Dabei folgt die Helligkeit der UV-Scheinwerfer der Rhythmik des Klanges und die Rotation seiner Dauer. Die Rekonstruktion der Hose auf einem Drehsockel lässt – im hellen Licht besehen – Flecken sichtbar werden, die sich wiederum im Dunkeln – nach einer Umdrehung und einem Lichtwechsel – als unsichtbar erweisen….
Die fehlende optische Information des einen Auges wird jeweils vom anderen Auge ersetzt. Die Wissenschaft der 1920er-Jahre erkannte die Leerstelle nicht nur als einen Teil der Wahrnehmung, sondern geradezu als ihre Voraussetzung an, während die Psychologie den ‚Blinden Fleck‘ (2) als etwas Verdrängtes, als eine Kehrseite des Bewusstseins, deutete.
Die Hose besteht aus einem neuen Stoff, bedruckt im Siebdruckverfahren, mit einem Muster aus fotochromatischer Farbe. Das Muster zeigt blaue Flecken, die während eines Malprozesses entstanden sind. Aufgrund der Eigenheit des fotochromatischen Pigments wird das Muster jedoch erst durch UV-Licht sichtbar. Sound, Licht, Farbe und Rotationsgeschwindigkeit sind so aufeinander abgestimmt, dass der drehende Objektkörper immer wieder die Anfangspose einnimmt, wie sie auf der historischen Fotografie Sanders dargestellt ist.
Während der Unterkörper samt Hose auf dem Podest um 360 Grad rotiert, sind die Flecken aus allen Perspektiven wahrzunehmen. – Das Licht geht aus, und die Flecken verschwinden.
1 Die Idee zur Optophonie stammte allerdings nicht von Raoul Hausmann selbst. Bereits in den 1910er-Jahren gelang es dem irischen Physiker und Chemiker Edmund Edward Fournier d’Albe (1868–1933) ein Vorlesegerät für blinde und sehbehinderte Menschen zu entwickeln.
2 Ursprünglich stammt der Begriff ‚Blinder Fleck‘ aus der Augenheilkunde und der Sozialpsychologie. Daher ist er in diesem Zusammenhang nicht als ableistisches Bild zu verstehen. Siehe dazu: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/ableismus [27.1.2021].